Wahrheit und Versöhnung

Wahrheit und Versöhnung

Wahrheit und Versöhnung

Im Mai werden auf dem Gelände einer ehemaligen Residential School die Überreste von 215 indigenen Kindern gefunden. Der Fund steht im Zusammenhang mit der 2008 eingerichteten Wahrheitskommission. Ein Bericht über Aufarbeitungsbestrebungen von kolonialer Gewalt in Kanada.

08.11.2021

Kanada

Hauptstadt: Ottawa
Einwohner:innenzahl: 38 Mio.
Sprachen: Kanadas gleichberechtigte Amtssprachen sind Englisch und Französisch, wobei 20,1 % der Bevölkerung weder die eine noch die andere als Muttersprache angeben. In den Nordwest-Territorien Kanadas besitzen zudem mehrere Sprachen der First Nations einen offiziellen Status.

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Wahrheit und Versöhnung
Photo by Melissa Griffin on Unsplash

Wenn eine Phase des Krieges oder der Ausbeutung beendet ist, stellt sich jedes Mal die Frage, wie die Menschen aus den Trümmern der Vergangenheit eine gemeinsame Zukunft gestalten können. In den allermeisten Fällen versucht man zwar zu bestrafen oder Reparationen zu zahlen, aber eine gemeinsame Zukunft ergibt sich daraus nicht. Wer vorher Täter:in war, fühlt sich jetzt als Opfer, während die vorherigen Opfer ihr Leid durch Entschuldigungen und/oder Geld noch längst nicht überwunden haben. Es muss ein anderer Weg gefunden werden. Ein Weg, der überhaupt erst durch gemeinsame Erfahrungen entsteht. Aus diesem Grund wurde nach dem Ende der Apartheid in Südafrika eine Truth & Reconciliation Kommission gegründet, die die Aufgabe hatte in einer langen Reihe von öffentlichen Veranstaltungen die Opfer zu Worte kommen zu lassen. Dieses Vorgehen führte zu zwei Resultaten: was bisher unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit geduldet worden war, wurde ans Licht gezerrt und die Täter:innen, die noch ausgemacht werden konnten, wurden vor Gericht gestellt. Verhindert wurden dadurch individuelle gewalttätige Racheaktionen, die die Bevölkerung noch weiter auseinandergetrieben hätte, als sie es ohnehin schon war. Diesem Beispiel folgte zunächst Rwanda nach dem Genozid von 1994 und anschließend auch noch Kambodscha, welches die Gräueltaten der Roten Khmer (1975-1979) auch 2001 noch nicht überwunden hatte. Dabei kam es zu einer Verschiebung der angestrebten Ziele. Während in Südafrika und Rwanda nicht nur die Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft im Raume stand, sondern auch die Bestrafung der Täter:innen, waren die Täter:innen in Kambodscha längst gestorben oder doch mittlerweile so alt geworden, dass ihre Bestrafung für die Opfer kaum noch Erleichterung brachte.

Das Land, das bis heute als letztes in der Reihe der Truth & Reconciliation Initiativen steht, ist Kanada. Die kanadische Initiative begann 2008 und sollte bis 2013 dauern. Vorläufig beendet wurde sie dann aber doch erst 2015. Der Teil der Geschichte Kanadas, der in der kanadischen Truth & Reconciliation Initiative überwunden werden sollte, ist im Gegensatz zu den Ereignissen in Kambodscha, Südafrika und Rwanda weltweit wenig bekannt. Es handelt sich dabei um die sogenannten Residential Schools, in denen die Kinder der First Nations (Indigene Bevölkerung) in die weiße Gesellschaft assimiliert werden sollten. Im Verlauf von 120 Jahren (1876-1996) wurden die Kinder der First Nations im Alter von 6-7 Jahren in Heime gebracht, wo sie bis zum 16./17. Lebensjahr blieben und auf ein Leben in der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ vorbereitet werden sollten.

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So viele Interviews führte die Truth and Reconciliation Comission of Canada (TRC) mit Betroffenen.

Im Verlauf dieser 120 Jahre wurden Tausende von Kindern in über 3.000 Heimen der Kultur ihrer Familien entfremdet und psychisch dermaßen zerstört, dass sie nach dem Verlassen der Heime weder bei ihren Eltern in den Reservaten noch in den Städten der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ Fuß fassen konnten. Als ich 1995 mit meinen drei Kindern von Madagaskar nach Kanada zog, wusste ich von all dem nichts. Es wurde nirgends darüber berichtet, weder in der kanadischen noch in der internationalen Presse. In Madagaskar hatten wir in einem Dorf mit ca. 2.000 Einwohner:innen gelebt. Fließendes Wasser gab es nur in der Regensaison, denn dann lief es überall. Strom gab es nur in der Trockensaison, weil dann die Leitungen trocken genug blieben, um Strom leiten zu können. Unsere Kinder gingen in die amerikanische Schule aber ihr soziales Umfeld waren die Kinder und Familien in unserem Dorf. Der Umgang der Madagassen mit Kindern unterscheidet sich sehr von dem in westlichen Ländern. In Madagaskar spielen Kinder eine wichtige Rolle in der Gesellschaft, und erhalten für ihren Beitrag den entsprechenden Respekt. So waren auch unsere Kinder sozialisiert worden. Ihre Beziehung zu Erwachsenen fand auf Augenhöhe statt. Daher war die Ankunft in Kanada für sie ein Schock, und nach ihrem anfänglichen Interesse an Spielplätzen, Baseball, Kino und Fernsehen, sehnten sie sich zurück in die soziale Verbundenheit und menschliche Nähe der Madagassen. Auf der Suche nach einem sozialen Umfeld, in dem sie sich geborgen fühlen würden, kontaktierte ich den Ältestenrat des Reservats, das in der Nähe unseres Wohnorts lag. Dort fragte ich an, ob unsere drei Kinder den Sommer im Reservat verbringen dürften. Zunächst wurde ich sehr misstrauisch betrachtet, aber nachdem ich unsere Situation erklärt hatte, wurden unsere Kinder aufgenommen.

Bei diesem Reservat handelte es sich um eines, das in der Nähe einer Stadt lag, und dessen Kinder in der Stadt zur Schule gingen. Dadurch waren sie vor der Unterbringung in Heimen geschützt. All das wusste ich nicht. Erst im Laufe dieses Sommers fand ich schrittweise heraus, warum der Ältestenrat mir gegenüber anfänglich so misstrauisch reagiert hatte. Für die Mitglieder erschien es wie eine neue Bedrohung. Die einen weißen nahmen ihnen die Kinder weg und die anderen weißen wollten ihnen ihre Kinder bringen, weil sie selbst mit den weißen nicht zurechtkamen. Ich war betroffen, wütend, fühlte mich mitschuldig, und war unendlich dankbar. In diesem Sommer lernten unsere Kinder, dass die Werte, die ihnen in Madagaskar vermittelt worden waren, auch in Kanada galten – nur eben nicht unter den weißen.

Stöcke
Photo by Marie-Michèle Bouchard on Unsplash

1996 wurden die letzten Residential Schools geschlossen. Damit war dieser Teil des Kampfes der First Nations beendet und ein neues Kapitel begann. Reservate brauchten Schulen. Kinder, die in weiterführende Schulen gehen sollten, mussten in den Städten untergebracht werden. Die Kinder derjenigen, die selbst in Heimen großgeworden waren, hatten Eltern, die keinen Familienzusammenhang kannten, in den Reservaten keine Arbeit fanden, und weder ein Bild von ihrer eigenen Zukunft noch von der ihrer Kinder hatten. In den Reservaten floss der Alkohol in Strömen, Kinder betäubten das Gefühl der Verlassenheit und der Hoffnungslosigkeit mit Benzingasn.

Parallel dazu gibt es aber auch einen Kern an First Nations, die sich gegen all dies wehren. Von der West- bis zur Ostküste hat Kanada über zwei Dutzend verschiedene First Nations, die in weit voneinander getrennten Reservaten leben. In jeder dieser Nationen gibt es einige Menschen, die gemeinsam eine Zukunft für alle First Nations entwickeln und sich über dieses große Land hinweg gegenseitig unterstützen. Die Zukunft soll von den First Nations selbst bestimmt werden. Es werden Strategien entwickelt und auch umgesetzt. Zu diesen Strategien gehören: (I.) der Erhalt des Status als First Nations, (II.) Bevölkerungswachstum, (III.) Ausbildung eigener Ärzt:innen, Anwält:innen, Lehrer:innen, Polizist:innen, Pflegekräfte, uvm., (IV.) Beteiligung an der Bundes- und der Provinzpolitik, (V) Neuinterpretation alter Verträge zwischen First Nations und weißen, (VI.) Wiederbelebung traditioneller Feste, (VII.) enge Zusammenarbeit unter den First Nations in Kanada und mit denen in den USA, (VIII.) Sichtbarmachung ihrer Lebensrealität durch Veranstaltungen und Medien. (IX.) Viele Reservate erlassen zudem ein Alkoholverbot. (X.) In Britisch Columbia erkämpfte eines der Reservate seine Unabhängigkeit von der Nationalregierung, (XI.) es wurde ein zusätzliches Verwaltungsgebiet für die Inuit geschaffen, dessen Territorium auf den Provinzen von Ontario und Quebec liegt, und (XII.) es werden eigene Firmen, Banken, Schulen, Radio- und Fernsehsender, uvm. eröffnet, nicht nur in den Reservaten, sondern auch in den Städten der Mehrheitsgesellschaft.

Zum Status der First Nations gehört das Recht auf soziale Unterstützung vom Staat. Wer im Reservat lebt, hat das Recht auf finanzielle Unterstützung von der Bundesregierung. Wer das Reservat verlässt, wird finanziell von der jeweiligen Provinzregierung unterstützt. Um dieses Recht in Anspruch nehmen zu können, muss man mindestens 25% indigen sein. Wenn also der Sohn eines Indigenen und einer nichtindigenen Frau (=50%) Kinder mit einer nichtindigenen Frau hat, dann sind seine Kinder zu 25% indigen. Wenn diese dann Kinder haben wollen und diese ihren Status als Indigene behalten sollen, dann muss der oder die jeweilige Partner:in selbst mindestens 50% indigen sein.

Was sich hier so leicht zusammenfassen lässt, war bzw. ist eine jahrzehntelange Anstrengung, die natürlich nicht erst mit der Abschaffung der Residential Schools anfing. Dieser Schritt war aber der Moment, an dem alles andere an Fahrt aufnahm.

Dazu gehörten die Veranstaltungen der Truth & Reconciliation Commission. 2008 begannen die ersten öffentlichen Veranstaltungen. Vertreter:innen der kanadischen Regierung, der Provinzregierungen, der Stadtverwaltungen, der Kirchen, der Polizei, der Schulen, der Vereine, der Krankenhäuser, der Banken, der Handelskammern, der Konzerne, uvm. wurden dazu eingeladen, sich den Erfahrungen der First Nations zu stellen. Auf der Bühne standen Vertreter:innen der First Nations, die alle jahrelang in Residential Schools festgehalten worden waren. Sie sprachen darüber, wie es für sie war als kleine Kinder von der Polizei im Reservat eingefangen worden zu sein, wie ihnen im Heim ankommend die langen Haare abgeschnitten worden waren, die sie bis dahin mit viel Stolz und Pflege hatten wachsen lassen, wie sie geschlagen wurden, sobald sie in ihren jeweiligen Muttersprachen miteinander kommunizierten, wie sie missbraucht wurden, und wie sie nach dem Verlassen des Heims nicht mehr Fuß fassen konnten in den Reservaten. Sie sprachen von ihren Versuchen in den Städten der weißen zu leben und zu arbeiten, von der Unmöglichkeit einen Arbeitsplatz zu finden, vom Versinken im Sexgewerbe, vom Alkoholismus und Drogenkonsum. Sie sprachen davon wie Familienmitglieder in den Städten von betrunkenen weißen aufgegriffen und mitten im Winter in der Wildnis ausgesetzt worden waren. Ihre erfrorenen Körper wurden erst nach der Schneeschmelze im Frühling gefunden.

Während dieser Veranstaltungen durchlitten die Vertreter:innen der First Nations im Erzählen diese Ereignisse nochmal. Schmerz, Tränen, Verzweiflung und Wut wurden nicht mehr nur im Verborgenen gelebt, sondern wurden sichtbar gemacht für die Welt. Den Täter:innen wurde keine Gelegenheit gegeben durch Versachlichung die Betroffenheit und damit die Verantwortung abzulehnen. Es gab keine Diskussionen, keine Fragerunden, und keine Debatten. Die Ziele waren das Anhören, das Verstehen, das Wissen, und das Teilen. Wenigstens ein kleiner Teil der Last sollte auf die Schultern der weißen umverteilt werden.

Auf manchen Veranstaltungen gab es Versuche, die vorher festgelegten Regeln zu missachten. Es kam vor, dass Kirchenvertreter:innen im Rahmen der Veranstaltungen weiße Schärpen übergeben wollten, um damit eine Betroffenheit oder Entschuldigung auszudrücken. Diese Schärpen wurden abgelehnt, denn es ging den First Nations nicht um Schuld oder Entschuldigung, sondern um die gemeinsame Erfahrung, auf der man später versuchen würde, eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Auf manchen Veranstaltungen integrierten die Vertreter:innen der First Nations zeremonielle Gesten der Verbindung untereinander. Es wurden zeremonielle Pfeifen geraucht, der Raum wurde mit dem Rauch bestimmter Pflanzen gereinigt, es wurden traditionelle Kostüme getragen, uvm. Die lebendige Kraft der First Nations wurde sichtbar gemacht und wurde genutzt, um sich untereinander zu stärken und die Angst vor der Bloßstellung zu überwinden. Ein großer Teil dieser Veranstaltungen wurde in den öffentlichen und in den privaten Medien publiziert. Es entwickelten sich Aktionsgruppen, Universitäten griffen verschiedene Themen für Masterarbeiten auf, finanzielle Mittel für die psychische Behandlung vieler der Betroffenen wurden zur Verfügung gestellt, und forensische Forschung begann mit der Aufarbeitung der Ereignisse. Allein im Jahre 2021 wurden mehrere Massengräber mit Hunderten von Kinderskeletten auf dem Gelände der Residential Schools gefunden. Die First Nations haben immer von der Existenz dieser Gräber gewusst aber hatten weder die Mittel noch die Autorität, diese Gräber zu öffnen. Das Recht dazu erhielten sie erst durch die Sichtbarmachung der Geschehnisse und durch das Ende des Schweigens, durch die Truth & Reconciliation Kommission.

Die Arbeit geht heute weiter. Als die Kommission 2015 ihre Arbeit beendete, war dies nicht das Ende der Entwicklung, sondern der Beginn der nächsten Phase der gesellschaftlichen Verarbeitung und der Neugestaltung des Lebens der First Nations in der westlichen Gesellschaft. Ihr Ziel ist es selbst zu bestimmen wie sie ihre Traditionen und Überlieferungen in der heutigen Welt ein- bzw. umsetzen. Sie wollen ihre Stärken in die Bewältigung der Weltkrisen einbringen. Sie wollen weder Opfer sein noch als solche gesehen werden. Die Truth & Reconciliation Kommission hat nicht nur das Leiden, sondern auch die Stärken der First Nations sichtbar und damit allen zugänglich gemacht.

Autorin: 
Dr. Imme Gerke

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