De-Facto-Staaten:
Staaten, die nicht existieren – oder doch?
Die angespannte Lage in der Ukraine hat kürzlich ein Phänomen beleuchtet, das in den Mainstream-Medien nur selten in den Schlagzeilen zu finden ist: international nicht anerkannte De-facto-Staaten im postsozialistischen Raum, die von russischer Patronage abhängig sind.
26.02.2022
Donbass
2 Oblasten Donetsk & Luhansk, 36% der Fläche werden von den de-facto Behörden kontrolliert
Sprachen: Hauptsächlich Russisch, Ukrainisch wird im Alltag kaum genutzt
Einwohner:innen: zwischen 1.6mio (Ukrainische Regierung) und 2.8mio (Donbass de-facto Behörden)
Schon gewusst?
- Der postsozialistische Raum ist eine Region mit vergleichsweise vielen De-facto-Staaten, darunter Transnistrien, Abchasien, Südossetien oder Bergkarabach.
- In der UEFA Champions League 2021 gewann der Newcomer FC Sheriff Tiraspol gegen Real Madrid mit 2:1 - eine Fußballmannschaft aus dem De-facto-Staat Transnistrien.
- Die UN-Friedenstruppen, die die Grenze zwischen Zypern und dem nicht anerkannten De-facto-Staat Nordzypern bewachen, werden wegen ihrer angeblich komfortablen Arbeitsbedingungen oft als "Beach-keeping Forces" bezeichnet.
Translation
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DISCLAIMER
Die Redaktion dieses Textes wurde vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 abgeschlossen. Die daraus resultierende Dynamik wurde daher nicht berücksichtigt.
Ganz am Anfang: Was sind De-Facto-Staaten?
In einer formaljuristischen Betrachtung sind De-facto-Staaten nicht anerkannte politische Gebilde unterschiedlicher Legitimität. Diese Gebilde entsprechen meist den Anforderungen der Montevideo-Konvention über die Rechte und Pflichten der Staaten von 1933: Kontrolle über eine ständige Bevölkerung, ein definiertes Territorium, eine Regierung und die Fähigkeit, Beziehungen mit anderen Staaten einzugehen. Zusätzlich gelten für De-facto-Staaten einige besondere Kriterien:
„Sie erklärten ihre tatsächliche Souveränität und erhielten einige wichtige Attribute der Staatlichkeit (Territorium, Regierung, Streitkräfte und in einigen Fällen sogar ein Währungssystem). Zweitens wird ihre Souveränität von außen nicht oder bestenfalls nur sehr begrenzt anerkannt. (…) Drittens befinden sie sich immer in einem Gebiet, das von der internationalen Gemeinschaft als Teil des Territoriums eines international anerkannten elterlichen Staates angesehen wird.“ (Markedonov, 2015) 1

Die Anomalie im westfälischen Staatensystem
Mehr als bloße Konfliktregionen: Der Donbas
Außenpolitische Priorität: Internationale Anerkennung
„die Bestrebungen nicht anerkannter Republiken von externen Kräften in der Verfolgung ihrer eigenen Interessen unterstützt wurden, […] oft unter den Bedingungen einer direkten militärisch-politischen Konfrontation zwischen einem Mutterstaat und Gebieten, die eine Abspaltung anstreben, was das Gleichgewicht der Kräfte und den Status quo in einer bestimmten Region stören kann“ (Markedonov, 2015)1

Diese Konfrontation zwischen der Ukraine und Russland hat sich nach 2014 eindeutig entwickelt, was auch erklärt, warum die Ukraine immer von Russland als Konfliktpartei und Feind gesprochen hat und nicht von den selbsternannten Behörden der Republiken, die sie stattdessen als „Terroristen“ bezeichnete.
Patronage: (Un-)Abhängigkeit?
„Das Ausmaß und die Art der Interaktionen, die nicht anerkannten Staaten zur Verfügung stehen, hängen in hohem Maße von ihrer geografischen Lage, der Postkonfliktdynamik, der Offenheit der Grenzen, dem Vorhandensein einer etablierten Diaspora oder ethnischen Verwandtschaft im Ausland, der Wirtschaftsstruktur des Gebiets, dem Engagement und den Fähigkeiten ihres Patronen und schließlich von den übergeordneten Zielen der politischen Führung dieser Gebiete ab.“ (Ó Beacháin et al., 2016)3

INFO
Dieser Artikel wurde durch das Forschungsseminar über De-facto-Staatlichkeit im post-sozialistischen Raum im Rahmen des MA-Studiengangs Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Marburg inspiriert.
Quellen
- Markedonov, S. (2015). De facto statehood in Eurasia: a political and security phenomenon. Caucasus Survey. https://www.semanticscholar.org/paper/De-facto-statehood-in-Eurasia%3A-a-political-and-Markedonov/d6beb1a51fc68f7da71323f9f66cf0b7eb03e201
- Meydan, V. (2018). A Paradox of International (Non)Recognition: The Relationship between De Facto States and Patron States. International Journal of Economics Politics Humanities and Social Sciences. https://mpra.ub.uni-muenchen.de/91050/1/MPRA_paper_91050.pdf
- Ó Beacháin, D., Comai, G., & Tsurtsumia-Zurabashvili, A. (2016). The secret lives of unrecognised states: Internal dynamics, external relations, and counter-recognition strategies. Small Wars & Insurgencies, 27(3), 440–466. https://doi.org/10.1080/09592318.2016.1151654
- Kopeček, V., Hoch, T., & Baar, V. (2016). De Facto States and Democracy: The Case of Abkhazia. Bulletin of Geography. Socio-Economic Series, 32(32), 85–104. https://doi.org/10.1515/bog-2016-0017
- Caspersen, N. (2012). Unrecognized states: The struggle for sovereignty in the modern international system. Polity.
- Fischer, S. (2019). The Donbas conflict: Opposing interests and narratives, difficult peace process. SWP Research Paper. https://doi.org/10.18449/2019RP05
- Sasse, G. (2022) in tagesschau.de. Eine indirekte Annexion. Retrieved online [URL] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/russland-ukraine-181.html, last accessed 23.03.2022
- TASS (2022). DPR’s parliament ratifies treaty on friendship, cooperation with Russia. Retrieved online [URL] https://tass.com/politics/1407949, last accessed 23.02.2022
Autor:innen
Lena & Marian
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