„Die Natur ist die Quelle meiner Resilienz“
Sudipta aus Auroville spricht über Veränderungen in ihrem persönlichen Leben
aufgrund von Covid-19 sowie über positive Lehren, die aus der aktuellen Krise
gezogen werden können.
01.09.2020
Hauptstadt: Neu-Delhi
Sprachen: neben mehr als 447 indigenen Sprachen sind Hindi und Englisch die Amtssprachen
Bevölkerung: ca. 1,33 Milliarden
Schon gewusst?
- Die Zahl der täglich mit der indischen Eisenbahn beförderten Personen entspricht in etwa der australischen Bevölkerung.
- Neben der historischen Stadt Ahmadabad ist die Stadt Jaipur in Rajasthan die zweite Stadt in Indien, die 2019 von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannt wurde. Jaipur wird wegen der Farbe seiner wichtigsten Gebäude auch "Pink City" genannt.
- Kühe haben im Hinduismus nicht nur einen hohen spirituellen Wert, Indien ist auch das Land mit der weltweit größten Milchproduktion.
Translation
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Gastbeitrag von Sudipta aus Auroville
Wie wird das Leben von Menschen auf der ganzen Welt von der aktuellen Covid-19-Pandemie beeinflusst? Um unterschiedliche Stimmen einzufangen, laden wir verschiedene Menschen ein, ihre Erfahrungen und Gedanken mit uns zu teilen. Sudipta aus Auroville spricht über die Veränderungen in ihrem Leben seit Corona, über nicht nachhaltige globale Systeme, alltägliche Ablenkungen und Momente der Schönheit.

In englischer Sprache hier zu hören:
Zur deutschen Übersetzung des Hörbeitrags:
Mein Name ist Sudipta und ich komme aus Indien. Vor der Covid-19-Pandemie habe ich für eine Jugendorganisation in Auroville gearbeitet. Auroville ist eine internationale Gemeinde in der Nähe von Pondicherry im südlichen Indien. In der Organisation YouthLink Auroville habe ich sehr viel Zeit mit Menschen verbracht, entweder weil ich neue Menschen kennenlernte, um mit ihnen Kurse und Workshops zu entwickeln, oder bei Events und Kursen, an denen wir selbst teilnahmen.
Wie die Zeit während des Lockdowns für mich war? Der Lockdown war für mich ein riesiger Einschnitt; ich hatte davor oft das Gefühl, in einem Hochgeschwindigkeitszug zu sitzen, mit vielen Projekten, die sehr viel Druck auf mich ausübten. Ich spürte, dass ich eine Zeit zur Selbstreflexion und Ruhe brauchte, aber ich hatte gleichzeitig das Gefühl, nicht aufhören zu können. Es ist seltsam, denn es scheint mir, dass das Gleiche in gewisser Weise auch in der Welt insgesamt passiert: Wir wussten, dass das bestehende System in ökonomischer und ökologischer Hinsicht nicht nachhaltig ist, aber die von uns gesetzten Prioriäten und der Druck innerhalb des Systems schienen so groß zu sein, dass wir keine Möglichkeit hatten, innezuhalten und uns neu auszurichten.
Um konkreter zu werden, was die Auswirkungen von Covid-19 auf mein Leben waren oder sind: Vor der Pandemie sollte ich die Leitung meiner Organisation mit rund zehn Mitarbeitenden übernehmen, doch mit der Verbreitung von Covid-19 verließen quasi über Nacht fast alle die Organisation (da die meisten internationalen Freiwilligen in ihre Heimatländer zurückgingen, Anm. der Redaktion). Ich habe mich gefragt: Für wen war ich eigentlich hier? Was bedeutet die Organisation für mich ohne die Menschen, die Teil von ihr sind? Und auch in einem größeren Zusammenhang, denn ich war gerade dabei, ein Teil der Gemeinschaft von Auroville zu werden, der Community, in der ich lebe und arbeite. Plötzlich musste ich mich fragen: Was bedeutet diese Gemeinschaft für mich, wenn diese Menschen, denen ich sehr nahe stand, plötzlich weg sind? Es hat also zu sehr vielen Veränderungen in meinem Leben geführt, Veränderungen, die ich nicht unter Kontrolle hatte. Ich musste mich von der Idee verabschieden, die Organisationsleitung zu übernehmen, der Organisation eine neue Ausrichtung zu geben; stattdessen bewerbe ich mich aktuell an Universitäten in Europa, um ein neues Kapitel in meinem Leben zu beginnen. Ich möchte mir klarer darüber werden, in welchem Bereich ich arbeiten möchte, bevor ich mich wieder aktiv engagiere. Insgesamt kann ich sagen, dass Covid-19 enorme Auswirkungen sowohl auf mein berufliches wie auch privates Leben hatte und darauf, wie es für mich weitergeht.
Nun dazu, wie es während der Covid-19-Zeit für mich war: Wir sind hier, wo ich lebe, nach wie vor sehr stark von Covid-19 beeinflusst. Trotzdem habe ich großes Glück, denn Auroville ist in gewisser Weise eine geschlossene Gemeinschaft, daher ist es einfacher zu kontrollieren, welche Menschen ein- und ausgehen. Innerhalb Aurovilles fühlt es sich deshalb recht frei an. Ich habe außerdem das große Glück, von Wald umgeben zu sein. Eines der ersten Dinge, die mir bewusst geworden sind, ist, wieviel Zeit wir mit Ablenkungen verbringen. Unser Arbeitsleben bestimmt unsere Zeit, wir haben Verpflichtungen, Ziele, Menschen, um die wir uns kümmern, mit denen wir uns beschäftigen müssen – all das frisst unsere Zeit und Energie auf, und führt uns davon weg, einfach nur zu sein. Ich habe festgestellt, dass ich mir ohne diese ganzen Ablenkungen selbst viel näher komme. Ich habe gemerkt, dass ich ein paar Dinge verarbeiten und akzeptieren muss, um weiterzukommen.
Zwei Dinge sind mir in der Zeit besonders klar geworden. Zum Einen ist mir bewusst geworden, wie heilend Natur für mich ist. Bei all den Unsicherheiten und Ängsten, die spürbar sind, hat es mir sehr geholfen, einfach nur draußen zu sein, zwischen Bäumen, Vögeln, den Geräuschen des Windes, unter der wärmenden Sonne, all diese kleinen Details – das ist sehr wichtig und hat eine tiefe, heilende Wirkung. Die Natur ist die Quelle meiner Resilienz. Zum Anderen wurde mir klar, dass wir alle in gewisser Weise eine kollektive Ängstlichkeit erben, diese globale Angst einer Welt mit Systemen, die nicht nachhaltig sind. Wir waren uns dessen teilweise bewusst – wir haben vom Klimawandel gehört, der mit den Jahren immer schlimmer wird, aber wirklich mit diesem kollektiven Unbehagen klarzukommen, das ein so wesentlicher Teil von mir ist, seit ich geboren bin. Dieses Bedürfnis, die Welt in Ordnung zu bringen, von der ich zutiefst überzeugt bin, dass ihre Prioritäten einfach falsch sind. Als ich das erkannt habe, wurde mir klar, wie wichtig es ist, diese kleinen Momente voller Schönheit, Freude, Verbundenheit zu suchen und diese zu nähren, wo auch immer ich sie finde – sei es in Beziehungen, sei es in meiner Arbeit.
Wovor ich mich gerade fürchte, aber was ich unbedingt beibehalten möchte, ist, zukünftig auf meinen inneren Kompass zu hören, der mir anzeigt, ob ich glücklich bin, ob ich in Frieden mit mir bin, ob ich mich verbunden fühle, ob ich liebend bin. Und dem zu folgen, anstatt mentalen Konstruktionen dessen, was die ideale Lösung wäre, was mein Beitrag sein sollte, was ich tun sollte – wegzukommen vom „müssen“ und darauf zu hören, was mir inneres Glück verschafft. Auch wenn das rational gesehen vielleicht nicht so ist, denke ich, dass wenn mehr Menschen auf das hören könnten, was in uns ist, dann würden wir sehr viel mehr zu den Lösungen, die bereits existieren, beisteuern. Mein Wunsch ist es, dazu beizutragen, diese Momente der Schönheit und der Verbundenheit zu vermehren.
Ich habe den Eindruck, dass die Covid-19-Zeit uns die Möglichkeit einer Introspektion gibt – auch wenn diese nicht freiwillig ist. Uns Zeit für die Frage zu nehmen, wo wir gerade stehen, um wahrzunehmen, wie vernetzt alles miteinander ist und ebenso zu realisieren, was uns wirklich wichtig ist und was wir zukünftig vorantreiben wollen.
Quellen
- Auroville (2020). Auroville in brief. https://www.auroville.org/contents/95. Zuletzt abgerufen am 30.08.2020.
- YouthLink Auroville (n.d.). The next generation. https://www.youthlink.org.in/youthlink. Zuletzt abgerufen am 30.08.2020.
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Ein wirklich spannender Beitrag. Sudipta hat mir aus der Seele gesprochen. Gerne mehr solcher „persönlichen“ Formate!