Unruhen in Kasachstan: ereignishafter Gewaltausbruch
Der Anfang des Jahres 2022 ist für die bis dahin friedliche und stabile Republik Kasachstan turbulent gewesen und von präzedenzlos gewaltsamen Unruhen gekennzeichnet.
12.02.2022
Kasachstan
Hauptstadt: Nur-Sultan (früher Astana)
Einwohner:innen: ca. 19,1 Mio
Sprachen: Kasachisch (Amtssprache), Russisch (zweite Amtsprache)
Schon gewusst?
- Kasachstan hat eine junge Bevölkerung: ca. 35% der Bevölkerung sind jünger als 20 Jahre.
- In Kasachstan leben über 120 verschiedene ethnische Gruppen.
- „Kasache“ bedeutet „Unabhängiger“ (bzw. „Wanderer“) - das stammt aus der Nomadenkultur des Mittelalters.
Während die Proteste, die mit ganz konkreten ökonomischen Forderungen angefangen haben, symptomatisch für das gesellschaftspolitisches System Kasachstans sind, ist die entstandene Gewalt als pathologisch zu bezeichnen und eher aus einer Ereignis-Perspektive zu analysieren. Unter Ereignis ist „etwas Schockierendes, aus den Fugen Geratenes, etwas, das plötzlich zu geschehen scheint und den herkömmlichen Lauf der Dinge unterbricht; etwas, das anscheinend von nirgendwo kommt, eine Erscheinung ohne feste Gestalt als Basis“.1 Demzufolge ist dieser Artikel ein Versuch, den Charakter des Gewaltausbruches während der Proteste im Januar in Kasachstan zu verstehen und ihn kritisch einzuschätzen. Damit erhebe ich keinen Anspruch auf eine vollständige Fassung der Problematik, da die Ereignisse in Kasachstan mehrdimensional (u.a. innenpolitische, geopolitische, wirtschaftliche) und komplex sind, aber besonders der Gewaltfaktor und der darum entstandene Diskurs hat „die Karten neu gemischt“ und eine Analyse, bzw. adäquate Einschätzung erschwert.
Den ereignishaften Charakter der Gewalteskalation könnte man im Allgemeinen mit folgenden Thesen formulieren:
- die unkontrollierbare Gewalt ist sicherlich als Transformation des bis dahin stabilen und friedlichen Laufs der Dinge in Kasachstan zu sehen;
- es ist wichtig, die entstandene Gewalt von den ursprünglichen Protesten zu unterscheiden und separat einzuschätzen. In einer genaueren Annäherung erscheint es, dass die Entlassung der Regierung und Ankündigung einiger politischer Reformen eine Reaktion auf den Gewaltausbruch war, und nicht auf vorangehende friedliche Demonstrationen und Forderungen der Zivilgesellschaft. Somit hat der Gewaltausbruch, symbolisch als „Almatinische Tragödie“ bezeichnet,2 die neue gesellschaftspolitische Agenda beeinflusst;
- erstmalig kam es zu umfangreicher Gewaltausübung gegen den Staat. Diese Tatsache wird sicherlich eine wichtige Rolle für die weitere Entwicklung der Zivilgesellschaft und deren Dialog mit dem Staat spielen.

Symptomatische Proteste und pathologische Gewalt
Die Proteste, die in den westlichen Regionen Kasachstans mit dem Motto „Gas für fünfzig [Tenge]!“ angefangen haben, sind keine große Überraschung gewesen, da sich die Flüssiggaspreise seit Jahren zu einem wichtigen gesellschaftlichen Thema in Westkasachstan entwickelt haben.
„Geschichte“ der Gaspreiseerhöhung im Westkasachstan
Das Hauptproblem der Gaspreiseerhöhung liegt an dem Unterschied zwischen den von der Regierung gesteuerten Gaspreisen und den Marktpreisen für Flüssiggas. Schon seit Mitte 2010-en ist das einzige im Westen Kasachstans Gasverarbeitungswerk wegen der niedrigen Gaspreise verlustbringend geworden. Dementsprechend folgte 2019 ein Beschluss der Regierung bzgl. des Überganges zum 01.01.2021 zur Marktregulierung der Gaspreise. Seit März 2021 also stiegen die Gaspreise kontinuierlich und der Höhepunkt kam dann zum 01.01.2022, wann der marktwirtschaftliche Preis auf 60% teuer als ein Monat davor geworden ist (der Preis für ein Liter Autogas von 80 Tenge (ca. 16 Cent) im Dezember 2021 auf 120 Tenge im Januar 2022). Dies war dann der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen lies.
Die einfache marktwirtschaftliche Erklärung der Preiseerhörung ergab
keinen Sinn für die dortigen Arbeiter:innen, die dieses Gas selbst
gewinnen und verarbeiten. Daher organisierten sie spontane
Demonstrationen, um ihre Unzufriedenheit zu äußern. Am selben Tag – also
sehr schnell – reagierte der Präsident Kasachstans, dem das historisch
bewiesene Protestpotential Westkasachstans (s. Infobox) gut bekannt
ist, mit dem Versprechen, den Fall der Preiserhöhung zu verhandeln.3
Schangaösen ist eine Stadt im Westkasachstan, die für Erdöl- und Erdgasgewinnung sowie für Protestpotential der Stadtbevölkerung bekannt ist. Ein perfektes Beispiel dafür sind die Proteste in Schangaösen im Dezember 2011. Damals, schon im Mai 2011 fand in Schangaösen der größte Streik der Angestellten der staatlichen Erdölindustrie mit Forderungen von höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen statt. Am 16. Dezember 2011, der offiziell als der Tag der Unabhängigkeit in Kasachstan gefeiert wird, schlug der Streik in gewaltsame Proteste um. Die damalige Regierung Kasachstans hat auf diese Eskalation mit einem massiven Polizeieinsatz reagiert und die Proteste hart unterdrückt. Nach offiziellen Angaben kamen 17 Menschen ums Leben. Zudem wurden über 30 Demonstranten festgenommen. Seitdem steht Schangaösen und deren Umgebung als „brisante Region“ Kasachstans in Verruf.
Daraufhin schien die ganze Situation unter Kontrolle zu sein. Die weitere Politisierung der Proteste ist sicherlich ein vielversprechendes Forschungsthema, aber das Motto „Hau ab, alter Mann!“, das an den ersten Präsidenten Kasachstan, Nursultan Nasarbajew, adressiert war, und die konkrete wirtschaftliche Forderung nach „Gas für Fünfzig [Tenge]!“ ersetzt hatte, ist nicht neu und taucht schon einige Zeit in den Reden von Oppositionellen auf, sowohl bei verschiedenen Demonstrationen als auch im (banalen) alltäglichen Diskurs (z. B. in Gesprächen mit Taxifahrern, die stets die „Sender“ der gesellschaftlichen Quintessenz sind). Dementsprechend – allgemein betrachtet – haben die Proteste an sich nichts Neues dargestellt und waren in dem Sinne symptomatisch. Der Ausbruch der Gewalt – und diesmal nicht nur seitens des Staates als Instrument zur Unterdrückung der Proteste, sondern seitens einiger Bevölkerungsgruppen gegen den Staat und friedliche Demonstrierende – ist im kasachischen Kontext ein relativ neues, unbekanntes und zugleich pathologisches Phänomen, das einige Anzeichen des Aufwachens des zivilgesellschaftlichen Bewusstseins (sprich friedliche Solidarisierungsproteste in mehreren Regionen des Landes) in eine destruktive Form verwandelte (s. Chronologie der Unruhen). Dieses pathologische Phänomen erschwert eine Kausalitätsanalyse der Proteste in Kasachstan, nämlich nach dem für Autokratien üblichen Schema: friedliche Demonstrationen – gewaltsame Unterdrückung der Demonstrierenden seitens des Staates – Gewalteskalation durch heftige Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und Polizei – verstärkter Militäreinsatz und endgültige Unterdrückung der Unruhen.4 Der Gewaltausbruch ist demgemäß als ein Ereignis, als etwas, was aus dem Nichts geschehen und nicht unbedingt auf ausreichenden Gründen beruht, zu betrachten. Der ereignishafte Effekt wird eine essenzielle Rolle für die künftige gesellschaftspolitische Entwicklung Kasachstans spielen. Außerdem rekonstruierten die Januarunruhen die davor existierende „innere Logik der Gesellschaft“ in einer retrospektiven Art und Weise. Die außerordentliche Gewalt ist nicht aus bestimmten Gründen ausgebrochen, sondern, weil die Gewalt entstand, sind einige Gründe hervorgekommen. In anderen Worten, einige sozialökonomische Wiederspruche, die bisher einen latenten Charakter hatten, wurden durch die Gewalt aufgedeckt und offen kommuniziert.
Chronologie der Unruhen in Kasachstan 2022

Die Gründe für die Unruhen und der ereignishafte Effekt der Gewalt
Die Vetternwirtschaft des ersten Präsidenten, ein extremes Niveau sozialer Ungleichheit samt regionalen Disparitäten, eine steigende Armutsgefährdungsquote und eine hohe Inflationsrate, die insbesondere in den Pandemiezeiten noch stärker zu merken war,5 sind die Gründe, mit denen sich das Geschehen in Januar in Kasachstan erklären lässt. Vor Januar 2022 sind diese sozialen und ökonomischen Probleme sicherlich bekannt gewesen, existierten jedoch eher ohne einen direkten Zusammenhang miteinander und als Elemente eines nicht zusammengesetzten Puzzles. Durch die gewaltsamen Unruhen der ersten Januardekade – durch das Ereignis – wurde das Puzzle, das in der mittelfristigen Perspektive die öffentliche Agenda bestimmen wird, endlich zusammengesetzt. In anderen Worten, das proklamierende „Ende der Nasarbajew- (der erste Präsident Kasachstans und verfassungsmäßig festgesetzter „Führer der Nation“) Epoche“, das als ein hochtrabendes Narrativ seit Anfang der Proteste im medialen Diskurs dominiert, scheint nur (!!!) zum ereignishaften Gewaltausbruch geführt zu haben.
Diesbezüglich ist die indirekte Polemik zwischen dem Staat und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft sowie Expert:innen sehr aussagekräftig. Der Staat gibt zu, dass „die Regierung die Verschärfung der gesellschaftlichen Probleme verschlafen hat“ und nun die Situation so schnell wie möglich ändern musste: Die Gründung einer neuen Stiftung für das kasachische Volk, sowie einige Reformen, u.a. im Bildungsbereich, sind schon angekündigt. Expert:innen und Vertreter:innen der aktivistischen Organisationen bauen ein anderes Narrativ dahingehend auf, dass „sie schon lange Zeit davon gesprochen haben, aber ihnen nicht zugehört wurde“. Die Lücke zwischen diesen beiden Narrativen spiegelt die Lücke wider, die in Kasachstan zwischen dem politischen Regime und der Gesellschaft existiert. Sie gehen nicht nur auseinander, sie sind transzendent zueinander. Womit – wenn nicht mit der pathologischen Gewalt – diese Lücke ausgefüllt werden sollte, bzw. wie sie verringert werden könnte, ist eine Frage der kommenden Jahre. Präsident Tokaew hat in seinen letzten Reden der kasachischen Gesellschaft schon vieles versprochen. Aufgrund dessen ist lässt sich zwar Hoffnung auf eine dauerhafte Lösung der sozialen Probleme und eine bessere Zukunft unter den Bürger:innen festzustellen, aber solch kritische Aspekte wie die Meinungs- und Pressefreiheit – im Hinblick auf weiterlaufende Verhaftungen der Journalist:innen und Aktivist:innen – bleibt ein kaum angesprochenes und eher gemiedenes Thema.
Radikale marginalisierte Masse und „untergegangene“ Zivilgesellschaft

Fazit
Autor:
Filipp Semyonov
Quellen
- Žižek, Slavoj (2014): Was ist ein Ereignis? Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag GmbH.
- Qassym-Schomart Toqajew [@TokayevKZ]. (07.01.2022) On January 2, 2022, I instructed the Government to quickly respond to the concerns of the protestors in the Western Kazakhstan and to implement a package of measures to regulate the price of liquefied petroleum gas.[Tweet]. Online: https://twitter.com/TokayevKZ/status/1479521559245201412?cxt=HHwWiIC9hZ7BqIgpAAAA (letzter Zugriff: 27.01.2022).
- Die Rede des Präsidenten der Republik Kasachstans während der außerordentlichen Session der Organisation des Vertrages für Kollektive Sicherheit (OVKS) am 10.01.2022. Online: https://en.odkb-csto.org/news/news_odkb/10-yanvarya-v-formate-videokonferentsii-sostoitsya-zasedanie-soveta-kollektivnoy-bezopasnosti-odkb-p/#loaded (letzter Zugriff: 27.01.2022).
- So eine Interpretation lässt dann die Januarproteste in Kasachstan mit „den Interventionen nach dem sowjetischen Stil in Ungarn und Tschechoslowakei“ zu vergleichen. S. die „MOTION FOR A RESOLUTION“ des Europaparlaments vom 18.01.2022. Online: https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/B-9-2022-0077_EN.html (letzter Zugriff: 27.01.2022).
- Agaidarov, Azamat; Izvorski, Ivailo V. & Rahardja, Sjamsu (2020): “Kazakhstan Economic Update: Navigating the crisis“, World Bank Group Working Paper, 1.
- Glas, Othmara: Machtkampf in Kasachstans Elite (2022). Online: https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/kasachstan-machtkampf-im-inneren-fuehrungszirkel-des-landes-17723056-p2.html (letzter Zugriff: 27.01.2022).
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