Ukraine. Krieg. Vergewaltigung. – oder: Die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln

Ukraine. Krieg. Vergewaltigung. – oder: Die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln

Angelehnt an die These, dass Krieg die Fortführung von Politik mit anderen Mitteln sei, könnte man sagen, dass Kriegsvergewaltigungen die Fortführung von Krieg mit anderen Mitteln sind. Dies lässt sich derzeit am Verhalten russischer Soldat:innen gegenüber der ukrainischen Zivilbevölkerung beobachten.

20.10.2022

Ukraine

Hauptstadt: Kiev
Sprachen: Die Amtssprachen ist Ukrainisch. Weitere Sprachen sind Russisch und Surschyk.
Einwohner:innen: 41,8 Mio.   

Schon gewusst?

Translation

Want to read the article in English? Please click here

Denkt man an Krieg, denkt man vermutlich zuerst an Panzer, Schützengräben, Bomben. Man denkt an Maschinengewehre und Luftangriffe. Aber Krieg kann man nicht nur mit diesen Mitteln führen. Krieg kann man auch führen, indem man Menschen sexuell erniedrigt, sie demütigt und so ihre Gemeinschaft zerstört. Krieg kann man führen, indem man die Zivilbevölkerung vergewaltigt.

Im Zuge der russischen Invasion in die Ukraine häufen sich die Berichte von sexueller Gewalt,1 insbesondere von Vergewaltigungen an der ukrainischen Zivilbevölkerung durch Angehörige des russischen Militärs. Opfer werden zumeist Frauen und Kinder.2

Männliche Opfer und Täter:innen

Auch wenn Vergewaltigungen überproportional häufig von Männern an Frauen verübt werden,3 bedeutet dies nicht, dass nicht auch Männer zu Opfern von Kriegsvergewaltigungen und Frauen zu Täterinnen werden. Es gibt verschiedene Formen von Vergewaltigungen, so dass Menschen aller Geschlechter potentiell zu Täter:innen, aber auch zu Opfern werden können.

Das Vorliegen einer Kriegsvergewaltigung ist nach der Definition des Internationalen Strafgerichtshofs an vier Voraussetzungen gebunden:

  1. Penetration einer anderen Person durch ein Körperteil oder einen Gegenstand.
  2. Begehung der Penetration durch Gewalt, Drohung oder Zwang, verursacht etwa durch die Angst vor Gewalt, Nötigung, Machtmissbrauch oder psychologische Unterdrückung oder durch Ausnutzung einer Zwangssituation oder Begehung gegenüber einer Person, die nicht dazu imstande ist, Konsens zu verleihen.
  3. Begehung als Teil eines umfassenden oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung.
  4. Wissen der Täter:innen um die Einbettung in einen solchen Angriff.4

Es muss also ein funktionaler Zusammenhang zwischen der Einzeltat und dem Angriff auf die Zivilbevölkerung bestehen. Die Tat darf nicht nur „bei Gelegenheit“ begangen werden. Die Taten werden normativ als Kriegsverbrechen und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit erfasst und können als solche vom Internationalen Strafgerichtshof verfolgt werden.

Dabei stellen Kriegsvergewaltigungen keineswegs ein neues Phänomen dar. Sie finden vielmehr statt, seitdem Kriege geführt werden5 und scheinen mit diesen oft untrennbar verbunden.6 Trotzdem wurden die Taten bis in die 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts hinein weitgehend ignoriert und als unschöne, aber unvermeidliche Nebenfolge kriegerischer Auseinandersetzungen betrachtet.7 Erst die systematischen Massenvergewaltigungen im Rahmen der Jugoslawien-Kriege führten zu internationaler (und wissenschaftlicher) Aufmerksamkeit für das Thema. Sexuelle Gewalt stellt nach dem UN-Sicherheitsrat ein Hindernis für die Wiederherstellung internationaler Sicherheit und des Weltfriedens dar.8 Doch noch immer sind die Taten gesellschaftlich mit einem großen Tabu belegt und die Opfer werden stigmatisiert.9 Dies führt in Kombination mit den generellen Schwierigkeiten der Forschung in Kriegs- und Krisengebieten dazu, dass bis heute kaum verlässliche Zahlen zu Kriegsvergewaltigungen vorliegen und die Forschung sich meist auf qualitative Analysen begrenzen muss und so notwendigerweise an ihre Grenzen stößt.

Kriegsvergewaltigungen stellen ein Kontinuum kriegerischer Auseinandersetzungen dar, sind aber nicht – wie noch heute zum Teil behauptet wird – untrennbar mit dem Krieg verbunden, sondern es gibt sehr wohl auch Kriege, in denen nicht vergewaltigt wird. Diese Tatsache muss als Schlüssel für eine mögliche Prävention künftiger Taten verstanden und genutzt werden.

What is not inevitable, can be ended.10

Elisabeth Jean Wood

Quote_Icon

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurden Kriegsvergewaltigungen typischerweise mit einem vom Täter nicht kontrollierbaren Sexualtrieb erklärt.11 Der (männliche) Körper sei wie ein Dampfkessel zu verstehen, in dem sich sexueller Druck aufbaut, der sich an irgendeinem Punkt entladen muss. Sexuelle Begierden, insbesondere die Ersatzbefriedigung mangels verfügbarer konsensualer Sexualpartner:innen scheinen jedoch in der Realität nur eine gegenüber anderen Faktoren deutlich untergeordnete Rolle zu spielen. Dies zeigt sich etwa am Einsatz von Zwangsprostituierten als sogenannte Trostfrauen durch das japanische Militär, der die Soldaten nicht in nennenswerter Form davon abgehalten hat, massenhaft Kriegsvergewaltigungen wie beim Massaker von Nanking zu begehen.13 Das Dampfkesselmodell ist als überholt abzulehnen.14

Massaker von Nanking

Das sogenannte Massaker von Nanking bezeichnet ein Kriegsverbrechen der japanischen Armee im Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg, bei dem die chinesische Stadt Nanking im Dezember 1937 von japanischen Truppen besetzt und innerhalb von sechs Wochen mindestens 200.000 Menschen getötet sowie etwa 20.000 Menschen vergewaltigt wurden.12

Stattdessen spielt bei Kriegsvergewaltigungen eine spezielle Form der Dehumanisierung, also Entmenschlichung des Opfers, eine besondere Rolle: Die Herabwürdigung des Weiblichen durch das Patriarchat. Der Begriff des Patriarchats bezeichnet diejenige Ideologie, die dem heterosexuellen Mann eine gegenüber Frauen, nicht-heterosexuellen Männern und Menschen anderer Geschlechter übergeordnete Rolle zuschreibt.15 Nur der heterosexuelle Mann gilt als Norm, alles andere als untergeordnete Abweichung. Die passive Seite eines sexuellen Kontakts wird allgemein als weiblich konnotiert. Jemanden zu vergewaltigen, „verweiblicht“ die Person also und ordnet sie damit unter, ganz unabhängig davon, welches Geschlecht Täter:innen und Opfer besitzen. Zugleich verleiht es den Täter:innen ein Gefühl von Männlichkeit, wobei Männlichkeit im Kontext kriegerischer Auseinandersetzungen mit Macht und Stärke eng verbunden ist und damit als erstrebenswert gilt. Dies gibt auch Aufschluss darüber, warum viele Kriegsvergewaltigungen auch an Männern begangen werden, die durch Kriegsvergewaltigungen in gleicher Weise gedemütigt werden können.

Daneben spielen auch die Verwischung der Grenze zwischen Zivilist:innen und Kombattant:innen, die Erwartungen der militärischen Kleingruppe des Akteurs und die bis heute fehlende konsequente Verfolgung und Sanktionierung von Kriegsvergewaltigungen durch militärische Strukturen eine entscheidende Rolle für eine erleichterte Begehung von Kriegsvergewaltigungen.

Kriegsvergewaltigungen als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln?

Angelehnt an die These, dass Krieg die Fortführung von Politik mit anderen Mitteln sei, könnte man sagen, dass Kriegsvergewaltigungen die Fortführung von Krieg mit anderen Mitteln sind. Sexuelle Gewalt kann ein Mittel sein, Demütigung, Furcht und Vertreibung weit über das unmittelbare Opfer hinaus zu erreichen. Dies lässt sich derzeit am Verhalten des russischen Militärs gegenüber der ukrainischen Zivilbevölkerung beobachten.

Gerade zu Beginn des Angriffskrieges wurden die Ukraine und Russland oft als David gegen Goliath dargestellt. 16 Folgt man dem ukrainischen Narrativ, ist das, was die ukrainischen Kämpfer:innen ausmacht, ihr unbändiger Wille, ihre Heimat, aber auch die als Zukunft in Freiheit und Demokratie verstandenen europäischen Werte, zu verteidigen.17 Was sie ausmacht, sei also ihre Mentalität. Sie verstünden sich als Beschützer:innen.

Aber gerade dieser Beschützer-Geist wird durch Kriegsvergewaltigungen auf perfide Art und Weise angegriffen. Diese zeigen nämlich, dass man als Gemeinschaft gerade nicht in der Lage ist, Frauen und Kinder zu beschützen, die überproportional häufig nicht an den Kampfhandlungen teilnehmen und vielfach völlig schutzlos sind.18 So gehen Kriegsvergewaltigungen in ihren Folgen weit über das unmittelbare Opfer hinaus. Man tötet die Männer, vergewaltigt die Frauen und vermittelt dem Gegner dadurch völlige Schwäche und Unterlegenheit. Die Taten können zu einem Displacement und kollektiven Traumata ganzer Gemeinschaften führen.19 Dies erhält gerade bei Kriegssituationen, bei denen der Sieg infolge schlechter Planung oder ausbleibenden militärischen Erfolgen nicht (alleine) auf dem Schlachtfeld errungen werden kann – und als solche muss die russische Invasion aus aktueller Sicht gelten – eine bedeutsame Rolle.20

Dass Kriegsvergewaltigungen als Kriegswaffe zur bewussten Erniedrigung, Dominierung und Vertreibung eingesetzt werden können, ist seit 2008 von den Vereinten Nationen anerkannt.21 Nicht in jeder Kriegsvergewaltigung ist automatisch ein Waffeneinsatz zu sehen. Vielmehr bewegen sich die Taten oft auf einem Spektrum zwischen bloßer Devianz (also abweichendem Verhalten) und systematischem Einsatz. Dass es sich jedoch bei den Kriegsvergewaltigungen der russischen Armee an der ukrainischen Bevölkerung grundsätzlich um einen Waffeneinsatz handelt, darf mit den obenstehenden Argumenten durchaus angenommen werden.

Damit stellt die Verübung von Kriegsvergewaltigungen durch russische Soldaten an der ukrainischen Bevölkerung die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln dar und muss als solche international verfolgt und geahndet werden. Die Aufnahme von Ermittlungen durch den Internationalen Strafgerichtshof sind vor diesem Hintergrund als erster Schritt hin zu einer völkerstrafrechtlichen Verfolgung und Sanktionierung der Taten zu begrüßen.

Solidarität im Kontext von Krieg?

Solidarität muss in diesem Kontext als Solidarität mit all jenen gedacht werden, die vom Patriarchat dehumanisiert werden. Ist das Weibliche dem Männlichen nicht mehr untergeordnet, kann niemand mehr durch „Verweiblichung“ erniedrigt werden.

Solidarität muss auch bedeuten, die Opfer von oft „unsichtbaren“ Gewalttaten wie Vergewaltigungen im Krieg, aber auch in Friedenszeiten ernst zu nehmen, ihnen Gehör sowie materielle und immaterielle Hilfe zu verschaffen und für Gerechtigkeit zu kämpfen.

Autor:in:

Anouk Noelle Nicklas

Quellen

  1. Zum Streit um die Begriffe „sexuelle Gewalt“ und „sexualisierte Gewalt“ vgl. https://www.fembio.org/biographie.php/frau/comments/sexualisierte-oder-sexuelle-gewalt/; abgerufen am 22.08.2022
  2. Stemple, Male Rape and Human Rights, Hastings Law Journal, Vol. 60, S. 605 (606) m.w.N.; De Brouwer, Cornell International Law Journal 2015, 639 (648)
  3. Stemple, Male Rape and Human Rights, Hastings Law Journal, Vol. 60, S. 605 (606, 611) m.w.N.; Gaggioli, Sexual violence in armed conflicts: A violation of international humanitarian law and human rights law, International Review of the Red Cross, Vol. 96, Nr. 894, 503 (504); De Brouwer, Cornell International Law Journal 2015, 639 (648); Cohen et al., Wartime sexual violence, United States Institute of Peace – Special Report 323, 2013, S. 4f.
  4. IStGH, Elements of Crimes, Art. 7 (1) (g)-1.
  5. Stiglmayer, Massenvergewaltigung – Krieg gegen die Frauen, 1993, S. 17.
  6. Ward, Wartime Sexual Violence at the International Level: A Legal Perspective, 2018, S. 1.
  7. Salzman, Human Rights Quarterly, Vol. 20, 348 (373).
  8. Resolution 1820 des UN-Sicherheitsrats, 19 Juni 2008, S/RES/1820 (2008)
  9. Salzman, Human Rights Quarterly, Vol. 20, 348 (370); Skjelsbaek, Sexual Violence and War: Mapping Out a Complex Relationship, European Journal of International Relations, Vol. 7, Nr. 2, 211 ( 212); Bernard, Sexual violence in armed conflict: from breaking the silence to breaking the cycle, International Review of the Red Cross, Vol. 94 Nr. 894, 427 (429).
  10. Wood, Conflict-related sexual violence and the policy implications of recent research, International Review of the Red Cross, Vol. 96, Nr. 894, S. 457 (478).
  11. Seifert, in: Stiglmayer, Massenvergewaltigung – Krieg gegen die Frauen, 1993, 85 (86).
  12. IMTFE, Judgement, November 1948, englische Version, Vol. II, Kap. VIII, S. 1011, 1012, 1015
  13. Vgl. Ahn, Japan’s ‘Comfort Women’ and Historical Memory: The Neo-nationalist Counter-attack, in: Saaler/Schwentker, The power of memory in modern japan, S. 44 m.w.N.;
  14. Weis, Die Vergewaltigung und ihre Opfer, 1982, S. 62; Seifert, in: Stiglmayer, Massenvergewaltigung – Krieg gegen die Frauen, 1993, 85 (86).
  15. Vgl. https://frauenseiten.bremen.de/blog/was-ist-eigentlich-das-patriarchat/; abgerufen am 15. Juni 2022.
  16. https://www.cbsnews.com/news/ukraine-vs-russia-a-modern-day-david-vs-goliath-story/; abgerufen am 22.08.2022
  17. Vgl. Ansprache des ukrainischen Präsidenten Volodymyr Zelensky vor dem Europäischen Parlament vom 01.03.2022; https://www.nbcnews.com/news/world/zelenskyy-gets-standing-ovation-speech-european-parliament-rcna18179; abgerufen am 22.08.2022
  18. Vgl. https://www.fr.de/politik/ukraine-krieg-missbrauch-kinder-vergewaltigung-russland-soldaten-news-91549251.html; abgerufen am 15. Juni 2022.
  19. Elbert et al, Sexual and Gender-Based Violence in the Kivu Provinces of the Democratic Republic of Congo: Insights from Former Combatants, S. 7 m.w.N; Guterres, Conflict-related sexual violence: Report of the United Nations Secretary General, S/2019/280, S. 6.
  20. Vgl. https://www.merkur.de/politik/ukraine-krieg-russland-soldaten-vergewaltigung-gewalt-kriegswaffe-news-fra-91592539.html; abgerufen am 15. Juni 2022.
  21. Resolution 1820 des UN-Sicherheitsrats, 19 Juni 2008, S/RES/1820 (2008)

Kommentar schreiben

Wir freuen uns auf diesem Blog über Eure Beiträge in Form von Fragen, Anregungen und Kritik. Uns liegt an einem offenen, freundlichen und respektvollen Umgang miteinander. Wir behalten uns das Recht vor, rassistische, sexistische, oder anderweitig diskriminierende Inhalte nicht zu veröffentlichen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert